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Warum die USA eine Wette auf die Zukunft sind
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Warum die USA eine Wette auf die Zukunft sind

...und andere spannende Dinge, die ich in den vergangenen zwei Jahren an der Georgetown Universität in Washington D.C. gelernt habe. Ein akademischer Rückblick.
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Liebe Leserinnen und Leser,

meine Zeit in den USA neigt sich dem Ende zu. In etwa einem Monat geht es zurück nach Deutschland. Mein großer Rückblick kommt noch, heute wollte ich über einige meiner akademischen Erlebnisse schreiben.

Vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich die Zusage von der Georgetown University für den “Master of Science in Foreign Service” bekommen. Es war ein schöner Moment. Zwei Jahre später kann ich sagen: Es war die beste Entscheidung meines (beruflichen) Lebens, meinen Job bei ntv als Politikreporter hinter mir zu lassen und nochmal in die akademische Welt einzutauchen. Ich hatte hier den Luxus, von ehemaligen Weltbank-Chefökonomen, US-Botschaftern und Finanzexperten zu lernen und von Professorinnen und Professoren, die mich inspiriert und mir neue analytische Fähigkeiten beigebracht haben.

Ich könnte viele Newsletter schreiben über die großartigen Dinge, die ich in den Kursen an der Universität gelernt habe, aber heute habe ich mich für drei Geschichten zu drei ganz unterschiedlichen Themen entschieden.

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1) Was Toiletten mit der Sicherheit von Frauen zutun haben

In meinem Kurs “Government & Market Failures” ging es um eine ganz grundsätzliche Frage in der Entwicklungshilfe: Wann soll der Staat in den Markt intervenieren und wie kann man verhindern, dass der Staat ein Versagen des Marktes durch staatliche Intervention noch schlimmer macht?

Man spricht von einer staatlichen Intervention, wenn der Staat z.B. Schulen und Lehrer bereitstellt. Er interveniert in den Markt, weil der Markt es aus eigener Kraft heraus nicht schafft, bezahlbare Schulen für die Bevölkerung bereitzustellen. Allerdings bedeuten staatliche Schulen keineswegs, dass es gute Schulen sind und die Schülerinnen und Schüler dort auch etwas lernen - ganz im Gegenteil. Oft spricht man in so einem Fall dann von Staatsversagen.

Wie der Professor am Anfang des Semesters verriet, fasziniert ein Thema die Studentinnen und Studenten jedes Jahr ganz besonders. Es geht um “open defecation”, was nichts anderes heißt als “sein Geschäft im Freien zu erledigen.” Was sich zunächst lustig anhört, ist ein ziemlich ernstes Thema. Denn “open defecation” ist in vielen Ländern, z.B. in Indien, ein großes Problem. Wenn Menschen draußen ihr Geschäft verrichten, z.B. auf einem Feld, dann führt das dazu, dass Fliegen und Insekten die Bakterien auf Lebensmittel übertragen können, was wiederum zu schlimmen Krankheiten führt.

Eine Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt, dass über 1,5 Milliarden Menschen weltweit noch immer nicht über eine sanitäre Grundversorgung verfügen, also z.B. private Toiletten. Von diesen Menschen verrichten über 400 Millionen ihre Notdurft immer noch im Freien, z.B. in Straßenrinnen, hinter Büschen oder in offenen Gewässern. Die Folgen sind verheerend.

Doch das Thema ist auch spannend, weil die Erfolge (und Misserfolge) der Entwicklungsarbeit hier so gut zum Vorschein kommen.

Der Grund, warum die Studentinnen und Studenten jedes Jahr so fasziniert sind, hat mit Junaid Ahmad zutun. Junaid Ahmad ist Ökonom und der Länderdirektor der Weltbank für Indien. Er hat außerdem eine wirklich großartige Geschichte parat, in der es u.a. um den Zusammenhang zwischen Toiletten und der Sicherheit von Frauen geht.

Die Geschichte geht so (ich zitiere teilweise aus einem Artikel, den Ahmad vor ein paar Jahren geschrieben hat):

Junaid Ahmad wurde Ende 2001 angerufen und gefragt, ob er ein Programm in Bangladesch evaluieren könne, das sich auf sanitäre Einrichtungen konzentriert hatte. Während Bangladesch große Erfolge dabei erzielt hatte, Menschen davon zu überzeugen, Toiletten in ihren Häusern einzubauen und in den eigenen vier Wänden auf’s Klo zu gehen, so lag Indien am Anfang der Nullerjahre hier noch meilenweit zurück. In Bangladesch praktizierten im Jahr 2001 nur noch 16 Prozent der Bevölkerung “open defecation”, in Indien waren es 70 Prozent. Während Bangladesch nun schon seit Jahren gar keine Probleme mehr damit hat, so liegt der Anteil in Indien immer noch bei über zehn Prozent.

Warum also war Bangladesch so erfolgreich in der Bekämpfung von “open defecation” und Indien nicht?

Dafür müssen wir zunächst verstehen, warum ein ganz klassischer Ansatz in der Entwicklungsarbeit in Indien nicht funktioniert hatte. Ahmad schreibt:

“Man ging davon aus, dass, sobald die Produktion von Latrinen subventioniert wurde, alles andere folgen würde. Denn wenn man den Preis einer Ware senkt, wird die Nachfrage sicherlich steigen. Indien begann mit der Subventionierung des Baus von Toiletten. Millionen von Dollar wurden für eine Bauaktion in ländlichen Gebieten ausgegeben.

Das Ergebnis war rätselhaft. Es wurden zwar Toilettenhäuschen gebaut, aber sie wurden nicht für die Abwasserentsorgung genutzt. Stattdessen wurden sie zu Lagerhallen, Unterständen für das Vieh und sogar zu kleinen Pooja-Ghars [Tempeln] umfunktioniert. Die Defäkation im Freien wurde fortgesetzt, das Baugewerbe verdiente Millionen, und die düstere Theorie der sanitären Einrichtungen blieb in Indien weiterhin vorherrschend.”

In Bangladesch sah die Lage wiederum komplett anders aus. Der Schlüssel zum Erfolg, erklärte Ahmad in unserem Seminar, war ein kluger Mann namens Dr. Kamal Kar, Begründer des Community-Led Total Sanitation Ansatzes. Kar setzte auf die Macht des “Schamgefühls”.

Was ist damit gemeint?

Kar verfolgte einen ungewöhnlichen Ansatz in Bangladesch:

“Die wirtschaftlichen und soziologischen Grundlagen dieser Revolution waren denkbar einfach. Das Ziel war die Änderung von Präferenzen, nicht der Bau von Infrastruktur. Der Auslöser war nicht, dass die Menschen den gesundheitlichen Nutzen besserer sanitärer Praktiken sahen. Es waren Scham und Würde. Scham darüber, dass die Menschen zuließen, dass ihre Dörfer zu Orten des Schmutzes wurden. Würde, indem man Mädchen und Frauen schützt und ihnen eine sichere Umgebung für häusliche Toiletten bietet.

Aber das war noch nicht alles. Die Teams erkannten, dass es nicht ausreichen würde, das Verhalten einiger weniger Haushalte zu ändern, um die gesundheitlichen Vorteile besserer sanitärer Praktiken zu erreichen. Vielmehr musste die Veränderung bei einem beträchtlichen Teil der Haushalte in einem Dorf stattfinden, um die externen Auswirkungen des schlechten Sanitärverhaltens einzelner Haushalte zu beseitigen. Der Schwerpunkt musste daher auf dem Dorf oder dem Kollektiv liegen.”

Mit anderen Worten: Die Arbeit von Kar und der Fokus auf das Schamgefühl sorgten dafür, dass es den Menschen schlichtweg zu peinlich war, im Freien auf’s Klo zu gehen.

Das Ergebnis war beeindruckend. Zum einen hängen in Bangladesch vor kleinen Ortschaften nun Schilder auf denen steht: “In unserem Dorf wird nicht im Freien defäkiert.” Und zum anderen entstand in ländlichen Gemeinden ein richtiger Toilettenmarkt. Anstatt auf staatliche Hilfen zu warten, nahmen die Menschen Kredite aus der Mikrofinanzierung auf, um in Toiletten zu investieren.

Und nun zum eigentlichen Punkt, der viel aussagt über die Kraft von (positiven und unvorhergesehenen) Externalitäten in der Entwicklungsarbeit: Dieser neue Toiletten-Hype sorgte dafür, dass bei Hochzeitszeremonien Latrinen an die Bräute verschenkt wurden. Es war eine Botschaft an die Eltern der Braut, dass ihre Tochter in ihrem neuen Zuhause Respekt und Sicherheit finden würde. Mit anderen Worten: Wenn ein Mann in Bangladesch eine Frau heiraten will, dann sollte er gefälligst eine schöne Toilette Zuhause haben, sonst wird das nichts mit der Ehe.

Wenn Frauen nicht im Freien auf die Toilette gehen müssen, dann erhöht das wiederum um ein Vielfaches ihre Sicherheit, weil sie nicht nur gesundheitlich geschützter sind, sondern auch vor Vergewaltigungen.

So großartig kann Entwicklungsarbeit sein!

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2) Mein Zukunfts-Ich wird die Zeche schon zahlen

In dem Kurs “Investing in Emerging Markets” ging es vor allem um die sogenannten Schwellenländer und wie man in sie investieren kann. Der Professor, ein Finanzexperte bei einer amerikanischen Bank, stellte uns zu Beginn des Kurses mehrere Fragen. Die erste war: Wenn man jeden Tag 5 Dollar beiseite legt und in den Aktienmarkt investiert und das über die nächsten 40 Jahre konsequent durchzieht, wie viel Geld hat man dann gespart, wenn man in Rente geht? (Die Antwort gibt es ganz unten im Artikel)*

Die zweite Frage an die Studentinnen und Studenten: Wie würdet ihr erklären, was Schulden sind? Oder ein Kredit? Die Antworten gingen in diese Richtung: Einen Kredit nimmt man auf, um eine Investition zu tätigen, z.B. um eine Firma zu gründen. Einen Kredit bekommt man meistens bei der Bank. Den muss man dann irgendwann zurückzahlen.

“Alles richtig”, sagte der Professor. “Aber denkt mal so über Schulden oder einen Kredit nach: Wenn ihr Schulden aufnehmt, dann leiht ihr euch Geld von eurem zukünftigen Ich. Ihr wettet sozusagen darauf, dass euer Zukunfts-Ich in der Lage sein wird, mehr Geld aufzubringen, um die Schulden zurückzuzahlen.”

Eine kluge Sichtweise.

Und es brachte mich zu dieser Überlegung: Wenn man diesen Gedanken weiterentwickelt, dann kann man zu dem Schluss kommen, dass die USA ein Meister darin sind, auf die Zukunft zu wetten.

US-Haushalte haben nämlich weltweit (mit Abstand) die höchsten Kreditkarten-Schulden. Der Median in den USA liegt bei knapp 6000 US-Dollar. Zum Vergleich: Japan liegt auf Platz 2 mit knapp 3000 US-Dollar, gefolgt von Schweden und Neuseeland. Deutschland liegt auf Platz 11 mit rund 2000 US-Dollar.

Das Verrückte an der Sache: Obwohl die Amerikaner chronisch verschuldet sind (und das auch gravierende Probleme mit sich bringt), schaffen sie es irgendwie, damit durchzukommen.

Und warum?

Weil die Wette auf die Zukunft (bis jetzt) immer ganz gut aufgegangen ist. Die Voraussetzung dafür ist allerdings eine stetig wachsende Wirtschaft und die Vormachtstellung im Finanzmarkt über den US-Dollar, der nunmal in den USA gedruckt wird.

Sollte sich an diesen Dingen aber etwas ändern, dann geriete die Wette auf die Zukunft und der Kredit vom Zukunfts-Ich ziemlich ins Wanken.

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3) Die ganze Welt altert

Die letzte Geschichte kommt aus meinem Kurs “Global Migration Policy”, in dem es um das Thema Migration geht und wie unterschiedlich verschiedene Länder damit umgehen. Ich habe vor einigen Wochen diesen Artikel dazu geschrieben:

Es gibt viele spannende Aspekte, die sich hier beleuchten lassen und einige davon bespreche ich in meinem wöchentlichen Podcast mit Gerald Knaus.

Zum Schluss wollte ich aber vor allem über Migration im Kontext unserer alternden Gesellschaften schreiben. Dazu erschien Ende letzten Jahres eine gute Analyse im Foreign Affairs Magazine mit der Überschrift “The Age of Depopulation.”

Der Artikel hat mehrere Schlüssel-Argumente und eines davon ist: In unseren Gesellschaften (fast weltweit) bekommen Menschen immer weniger Kinder, weil sie ganz bewusst diese Entscheidung treffen, also gar keine oder nur wenig Kinder zu bekommen. Der Autor schreibt:

“Viele Frauen (und Männer) sind möglicherweise weniger daran interessiert, Kinder zu bekommen, weil so viele andere ebenfalls weniger Kinder haben. Die zunehmende Seltenheit von Großfamilien könnte es den Menschen erschweren, sich wieder für Kinder zu entscheiden - was Wissenschaftler als Verlust des ‘sozialen Lernens’ bezeichnen - und die niedrige Fruchtbarkeit zu verlängern. Diese bewusste Entscheidung ist der Grund, warum selbst in einer immer gesünderen und wohlhabenderen Welt mit über acht Milliarden Menschen das Aussterben jeder Familienlinie nur eine Generation entfernt sein könnte.”

Die Folgen dieses Trends sind allgemein bekannt: Alternde Gesellschaften werden sich schwerer damit tun, ihren Arbeitsmarkt zu bedienen und somit wirtschaftliches Wachstum aufrechtzuerhalten.

Was (mir jedenfalls) nicht so klar war: Auch Entwicklungsländer und aufstrebende Wirtschaften werden in eine ähnliche Situation kommen. Der Autor erklärt weiter:

Die armen, älteren Länder der Zukunft könnten unter großem Druck stehen, Sozialstaaten aufzubauen, bevor sie diese tatsächlich finanzieren können. Aber das Einkommensniveau wird in den Ländern Asiens, Lateinamerikas, des Nahen Ostens und Nordafrikas wahrscheinlich deutlich niedriger sein als in den westlichen Ländern, die sich in der gleichen Phase der Alterung der Bevölkerung befinden - wie können diese Länder die angemessenen Mittel zur Unterstützung und Pflege ihrer älteren Bevölkerung aufbringen?”

Die Botschaft: Es wird ein neuer Konkurrenzkampf über die Talente der Zukunft für unsere Arbeitsmärkte entstehen. Wer denkt, man könne ohne (oder nur mit wenig) Migration in die Zukunft schreiten, der irrt gewaltig.


Das waren meine drei Geschichten von der Georgetown Universität.

Und wenn Sie bis zum Schluss drangeblieben sind, dann gibt es hier die Antwort auf die oben gestellte Frage. Wenn man für 40 Jahre lang jeden Tag 5 US-Dollar, z.B. in den S&P 500 steckt (durchschnittliche Verzinsung 11 Prozent), dann hat man am Ende dieser Zeit einen Betrag von über 1,1 Millionen US-Dollar. Das ist doch ganz nett.

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.

Philipp Sandmann

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