Liebe Leserinnen und Leser,
in diesen Tagen frage ich mich oft: was bedeutet es eigentlich, in einem “Rechtsstaat” zu leben? Wofür sind Gesetze da? Und warum gibt es Gerichte, die diese Gesetze durchsetzen und aufrechterhalten?
Gesetze existieren, weil sie das Fundament für unseren gesellschaftlichen Vertrag bilden. Sie sind außerdem eine ziemlich effiziente Versicherung.
Ein ganz einfaches Beispiel: Menschen halten sich (meistens) im Straßenverkehr an das Gesetz, weil sie wollen, dass sie sicher an ihr Ziel kommen. Ich halte auch an einer roten Ampel wenn wenig oder gar kein Verkehr ist, weil ich von den anderen Verkehrsteilnehmern das gleiche erwarte. Damit das auch so bleibt, muss der Staat in den Markt (in diesem Fall der Markt des Straßenverkehrs) eingreifen. Durch ein Gesetz.
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Das Gesetz sagt: An einer roten Ampel musst du halten. Wenn es grün wird, darfst du fahren. Das Ergebnis dieser staatlichen Intervention: Bricht jemand die Regeln, dann wird er oder sie sanktioniert (und tut es hoffentlich nicht wieder). Das ist gut, denn es schafft Vertrauen und Respekt vor den Regeln, die allen zugutekommen.
Doch das Zusammenspiel zwischen Mensch und Gesetz ist natürlich komplexer als rote oder grüne Ampeln.
Denn das Gesetz sagt auch: Selbst wenn jemand einen Fehler macht, dann steht es der Person zu, sich rechtlich zu verteidigen. Mit anderen Worten: Erst durch ein juristisches Verfahren kann entschieden werden, ob die Person wirklich gegen das Recht verstoßen hat und deswegen bestraft wird.
Man kann das in einem Satz aus dem Grundgesetz (Artikel 3) zusammenfassen: “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.” Ähnlich steht es geschrieben auf dem Supreme Court der USA, dem obersten Gerichtshof: “Equal Justice Under Law”.
Das heißt: Selbst Straftätern steht ein Verfahren zu. Warum? Weil auch das eine Art Versicherung unseres gesellschaftlichen Vertrags ist. Erst, wenn man beweisen kann, dass jemand unrechtmäßig gehandelt hat, darf er oder sie bestraft oder sanktioniert werden. Das kann unter Umständen bedeuten, dass schuldige Menschen am Ende mit Straftaten davonkommen und das Gesetz Schwachstellen aufweist. Es kann aber eben auch das genaue Gegenteil bedeuten: Menschen können vom Gesetz noch “gerettet” werden, weil erst durch das Verfahren bewiesen wird, dass sie unschuldig waren.
Letzteres ist von enorm wichtiger Bedeutung, wie ein aktueller Fall in den USA zeigt, zu dem ich gleich komme.
Das Gesetz als Rettung
Es gibt viele Arten von Gesetz und Recht. Nationales Recht, europäisches Recht, internationales Recht. Alle Rechtssprechungen betreffen verschiedene Aspekte, sie sind manchmal über- oder untergeordnet, aber sie sind allesamt wichtig und relevant.
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel.
Großbritannien wollte Menschen, die irregulär ins Land gekommen waren und keine Aussicht auf Asyl hatten, nach Ruanda abschieben. Also, in einen sogenannten sicheren Drittstaat.
Das Problem an der Sache: Die damalige konservative Regierung in London hatte geltendes Recht ignoriert. Britische Gerichte stoppten den Start der Flugzeuge, die sich teilweise schon auf dem Rollfeld befanden.
Das Gesetz war die letzte Instanz. Das Gesetz wurde von den Gerichten aufrechterhalten.
Man kann sich darüber aufregen und sagen: Gerichte verhinderten, dass Menschen, die ausreisepflichtig waren, abgeschoben werden konnten. Ich verstehe den Punkt. Doch entscheidend ist etwas anderes: Die Regierung hatte in ihrem Vorhaben gegen geltendes Recht verstoßen und die Gerichte sorgten dafür, dass die Abschiebungen nach Ruanda nicht stattfinden konnten. Das ist ein Vorgang, der in einem Rechtsstaat wichtig ist.
Mein Argument ist nämlich nicht, dass Abschiebungen in sichere Drittstaaten per se schlecht oder falsch sind (im Gegenteil). Mein Argument ist: Wenn eine Regierung ein solches Vorhaben durchsetzen will, dann muss sie sich entweder an das Gesetz halten (in diesem Fall nationales und internationales Recht) oder das Gesetz ändern. Eine Überstellung in ein sicheres Drittland verstößt nicht gegen die Flüchtlingskonvention, wie britische Gerichte festgestellt haben. Aber natürlich muss das entsprechende Land zunächst als sicher eingestuft werden, damit es auch ganz offiziell zum sicheren Drittstaat wird.
Der “Alien Enemies Act”
Warum dieser große Bogen? Weil ich gerade in einem Land lebe, in dem diese Versicherung - also das Gesetz und die Gerichte - mißachtet wird. Und zwar nicht von irgendwem, sondern vom US-Präsidenten und seiner Regierung.
Trump und sein höriges Kabinett führen einen offenen Krieg gegen die Richter in den USA, die versuchen, Trumps unrechtmäßige Vorhaben zu stoppen.
Ein aktueller Fall zeigt, was passieren kann, wenn Menschen ohne Verfahren und außerhalb des Gesetzes festgenommen und abgeschoben werden.
So musste die Trump-Regierung vor einigen Tagen zugeben, dass sie einen Familienvater mit geschütztem Rechtsstatus (“protected status”) aus dem US-Bundesstaat Maryland aufgegriffen und fälschlicherweise nach El Salvador abgeschoben hatte. Danach erklärte die Regierung, dass die US-Gerichte nicht mehr befugt seien, seine Rückkehr aus dem brutalen Gefängnis anzuordnen, in dem er jetzt eingesperrt ist. So wurde also zunächst das Gesetz ignoriert und dann dafür “benutzt”, um zu argumentieren, dass die USA nicht mehr zuständig seien.
Trump handelte in diesem Fall unrechtmäßig und ignorierte geltendes Recht in den USA, wie ich gleich erkläre.
Daran ändert auch nichts, dass sich Trump auf den sogenannten “Alien Enemies Act” berufen hatte - ein uraltes Gesetz von 1798 (!!) - um Menschen ohne Verfahren nach El Salvador in ein Hochsicherheitsgefängnis abzuschieben.
Der “Alien Enemies Act” wurde bis vor kurzem dreimal in Anspruch genommen. Jedes Mal während eines größeren Konflikts: Im Krieg von 1812, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Und nun ein viertes Mal, im Jahr 2025.
Das Brennan Center for Justice erklärt die Problematik des Gesetzes so:
“Der Alien Enemies Act von 1798 ist eine kriegsbedingte Befugnis, die es dem Präsidenten erlaubt, Einheimische und Bürger einer feindlichen Nation zu inhaftieren oder zu deportieren. Das Gesetz erlaubt es dem Präsidenten, diese Einwanderer ohne Anhörung und nur auf der Grundlage ihres Geburtslandes oder ihrer Staatsangehörigkeit ins Visier zu nehmen.
Obwohl das Gesetz erlassen wurde, um ausländische Spionage und Sabotage in Kriegszeiten zu verhindern, kann es auch gegen Einwanderer angewandt werden, die nichts verbrochen haben, keine Anzeichen von Illoyalität aufweisen und sich rechtmäßig in den Vereinigten Staaten aufhalten. Es handelt sich um eine zu weitreichende Befugnis, die in Kriegszeiten gegen die verfassungsmäßigen Rechte verstoßen kann und in Friedenszeiten missbraucht werden kann.
(…)
Der Präsident kann sich auf den Alien Enemies Act berufen, wenn ein ‘erklärter Krieg’ vorliegt oder wenn eine ausländische Regierung eine ‘Invasion’ oder einen ‘räuberischen Überfall’ auf amerikanisches Hoheitsgebiet androht oder unternimmt. (…) Der Präsident muss nicht auf den Kongress warten, um das Gesetz aufgrund einer drohenden oder laufenden Invasion oder eines räuberischen Übergriffs geltend zu machen. Der Präsident ist von Natur aus befugt, diese Art von plötzlichen Angriffen abzuwehren - eine Befugnis, die notwendigerweise den Ermessensspielraum beinhaltete, zu entscheiden, wann eine Invasion oder ein räuberischer Überfall im Gange ist.”
Zwei Punkte sind hier entscheidend. Erstens, die “Invasion”, die in dem Act von 1798 genannt wird. Auf genau die beruft sich Trump in seiner Executive Order vom 15. März, in der er schreibt:
“Bei Tren de Aragua (TdA) handelt es sich um eine als ausländische terroristische Vereinigung eingestufte Organisation mit Tausenden von Mitgliedern, von denen viele illegal in die Vereinigten Staaten eingedrungen sind und irreguläre Kriegshandlungen und feindliche Aktionen gegen die Vereinigten Staaten durchführen.”
Zweitens, die Befugnis des US-Präsidenten und der Ermessensspielraum, der für den nächsten Abschnitt wichtig ist.
Herrscht gerade Krieg?
Trumps Sympathisanten sagen nun: Wo liegt das Problem? Der US-Präsident hat sich auf ein Gesetz berufen, um gefährliche Bandenmitglieder aus den USA zu entfernen.
Warum Trump aber trotzdem gegen geltendes Recht verstößt, das erklärte die Richterin Karen L. Henderson vor einigen Tagen. Das entscheidende Argument der Richterinnen und Richter, die den Vorgang stoppen und ihn nun rückgängig machen wollen: der “Alien Enemies Act” gilt nur in Kriegszeiten.
Im Moment befinden sich die Vereinigten Staaten natürlich nicht im Krieg. Wie Richterin Henderson schreibt, wurde der “Alien Enemies Act” zu einer Zeit erlassen, als die jungen USA von einem Krieg mit Frankreich und “internen Unruhen” geplagt war. Der “Alien Enemies Act” erlaubte es dem Präsidenten, “Feinde” in Kriegszeiten auszuweisen.
Wie Richterin Henderson weiter erläuterte, erfordert der Wortlaut des “Alien Enemies Act” allerdings einen “erklärten Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und einer fremden Nation oder Regierung” oder “eine Invasion oder einen räuberischen Überfall (…) auf das Gebiet der Vereinigten Staaten durch eine fremde Nation oder Regierung.” Weder gibt es gerade Krieg, noch gibt es eine Invasion.
Die Interpretation des Gesetzes
Allerdings kommen wir nun zum eigentlichen Problem und der Überschrift dieses Artikels. Der US-Präsident hat - und das ist nicht neu - im Grunde genommen grenzenlose Macht. Denn er kann das Gesetz so zurecht-interpretieren, wie er will.
Ein Meister dieser Zunft war der ehemalige US-Vizepräsident unter George W. Bush, Dick Cheney.
Cheney und sein Anwalt David Addington interpretierten die Exekutivgewalt in der Zeit nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (9/11) in einer außergewöhnlichen Weise und sie erteilten Präsident George W. Bush somit die Befugnis, zu inhaftieren, zu verhören, zu foltern, abzuhören und zu spionieren - ganz ohne die Zustimmung des Kongresses und ohne gerichtliche Überprüfung.
Der US-Präsident bekam mit Blick auf den “War on Terror” eine komplett entfesselte Macht (die theoretisch bis heute weiterhin gilt).
Auch US-Präsidenten nach George W. Bush interpretierten das Gesetz so, um zu argumentieren, dass der Präsident weitreichende und auch militärische außenpolitische Entscheidungen ohne Erlaubnis des Kongresses treffen darf.
Präsident Joe Biden ordnete z.B. 2021 als Reaktion auf die Raketenangriffe auf US-Ziele im Irak, Luftangriffe gegen vom Iran unterstützte Milizen im Irak und in Syrien an und berief sich dabei auf seine “verfassungsmäßige Befugnis zur Führung der Außenbeziehungen der Vereinigten Staaten und als Oberbefehlshaber (“Commander in Chief”) und Chef der Exekutive.”
Durchführung von “Außenpolitik”
Nun geht es aber heutzutage nicht um Raketenangriffe, sondern um unrechtmäßige Abschiebungen. Doch diese Vorgänge lassen sich durchaus vergleichen. Denn auch Trump beruft sich in einigen seiner Präsidialanordnungen auf Artikel II der US-Verfassung. Trump schreibt in einer Anordnung vom 12. Februar:
“Artikel II der Verfassung der Vereinigten Staaten überträgt die Befugnis zur Durchführung der Außenpolitik dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.”
Das Portal “Lawfare” hat die Problematik in diesem Kontext gut zusammengefasst:
“Mit dem einleitenden Satz [in der Präsidialanordnung], dass ‘Artikel II der Verfassung der Vereinigten Staaten dem Präsidenten der Vereinigten Staaten die Befugnis zur Durchführung der Außenpolitik überträgt’, vertritt die Präsidialanordnung eine maximalistische Auffassung der verfassungsmäßigen außenpolitischen Befugnisse des Präsidenten.
Durch die wiederholte Erwähnung der ‘Außenpolitik des Präsidenten’ wird fälschlicherweise impliziert, dass der Kongress bei der Gestaltung der Außenpolitik wenig bis gar keine Rolle zu spielen hat und dass die Gesetzgeber nicht befugt sind, den Präsidenten zu überstimmen oder das Personal der Exekutive in diesem Bereich anzuweisen.”
Interessant in diesem Kontext ist, dass die Juristen, die Trump unterstützen und seine Abschiebungen nach El Salvador verteidigen, sehr ähnlich argumentieren und dem Präsidenten die absolute Macht zusprechen.
So argumentiert die stellvertretende Generalstaatsanwältin Sarah M. Harris:
“Dieser Fall wirft die grundsätzliche Frage auf, wer darüber entscheidet, wie sensible Operationen im Zusammenhang mit der nationalen Sicherheit in diesem Land durchgeführt werden - der Präsident durch Artikel II oder die Justiz. Die Verfassung gibt eine klare Antwort: der Präsident. Eine andere Entscheidung kann sich die Republik nicht leisten.”
Das ist ein Satz, den man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Die Justiz hat nichts zu sagen, der Präsident hat die unangefochtene Macht und die Republik könne sich eine andere Entscheidung “nicht leisten.”
Rechtsstaat. Oder?
Ich wollte mit diesem (ziemlich) langen Artikel vor allem eines zeigen: dass der US-Präsident viel Macht hat, das ist nicht neu. Wenn man in die Vergangenheit schaut, dann findet man erschreckende Beispiele für die Art und Weise, wie US-Präsidenten das Gesetz entweder ignoriert, oder so zurechtgebogen haben, dass es einem bestimmten Zweck dienen konnte.
Was neu ist: Oft konnten Gerichte den Präsidenten zumindest im Nachgang noch korrigieren und in Schach halten.
Trump ignoriert allerdings (zunehmend) die richterlichen Anordnungen und interpretiert seine Macht als grenzenlos. Das erschreckende an der Sache: Solange er den Rückhalt in seinen eigenen Reihen hat, wird er damit durchkommen.
Und das bedeutet: Es gibt in den USA keine Rechtsstaatlichkeit mehr. Wenn das der Fall ist - und der Trend in die gleiche Richtung weitergeht - dann gibt es in Zukunft noch weniger Unterschiede zwischen den USA und Russland. Überraschen sollte uns das nicht, denn es war ja schließlich das ausgewiesene Ziel von Donald Trump. Furchtbar ist es trotzdem.
Philipp Sandmann
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