Liebe Leserinnen und Leser,
ich hoffe, dass Sie ein schönes Osterfest verbracht haben.
“We the people” ist der erste Satz der amerikanischen Verfassung und, nein, das ist nicht die größte Schwachstelle in diesem historischen Dokument. Ganz im Gegenteil. Das ist womöglich der großartigste Satz. Er ist deswegen so gut, weil er deutlich macht, dass es die Menschen im Land sind, also die Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, die die Werte der Verfassung aufrechterhalten sollen.
Zum Vergleich: Der erste Satz der Verfassung der Vereinigten Arabischen Emirate hat eine ganz andere Anmutung. Da steht nämlich nicht “We the people”, sondern “We the Rulers”, also “wir, die Herrscher.” Ein großer Unterschied.
Welchen Satz ich als Schwachstelle in der US Constitution bezeichnen würde, dazu später mehr.
Der heutige Newsletter baut auf einem Text auf, den ich vor zwei Wochen geschrieben habe, in dem es um die (ziemlich uneingeschränkte) Macht des US-Präsidenten geht.
Weil in diesen Tagen viel über eine “neue” Gesetzlosigkeit in den USA geschrieben wird (und ich dieser These auch teilweise zustimmen würde), so sollte man doch auch einen Blick in die Geschichte werfen, um zu verstehen ob es sich wirklich um eine neue Form der Missachtung der Gerichte handelt oder ob dieses Mal nur andere Menschen davon betroffen sind.
Das Fundament für meinen Text ist Trumps Verwendung (und Interpretation) des sogenannten “Alien Enemies Act” (der im oben verlinkten Artikel erklärt wird). Doch ich will heute noch einen Schritt weitergehen, da in den vergangenen Tagen klar geworden ist, dass Trump nicht nur die Deportation von nicht-US-Staatsbürgern ausweiten will, sondern womöglich auch US-Staatsbürger aus dem Land werfen und nach El Salvador überführen will.
Bevor ich also zu meiner Analyse der aktuellen Lage komme, möchte ich zwei Abschnitte aus einem Artikel von Jonathan Chait, Journalist beim Atlantic, zitieren.
Erstens:
“Trump hat eine Falltür unter dem amerikanischen Rechtssystem geöffnet. Diese Falltür ist breit genug, um die gesamte Verfassung zu verschlucken. Solange er mindestens einen ausländischen Machthaber findet, der mit ihm kooperiert, kann Trump, wenn er will, jeden Dissidenten, Richter, Journalisten, Kongressabgeordneten oder Kandidaten für ein Amt inhaftieren.”
Und ein zweiter wichtiger Abschnitt im Text:
Bei seinem Treffen mit Bukele [Präsident von El Salvador] erklärte Trump, er wolle Abschiebungen nach El Salvador auf amerikanische Staatsbürger ausweiten. (“Homegrowns sind die nächsten”, sagte er zu Bukele. “Ihr müsst etwa fünf weitere Standorte [Gefängnisse] bauen. Eins ist nicht groß genug.”) Auf die Frage, ob sein Abschiebeplan auch amerikanische Staatsbürger einschließt, antwortete Trump: “Ja, das schließt sie ein - denken Sie etwa, dass sie eine besondere Art von Menschen sind oder so?” Am nächsten Tag bekräftigte er diesen Standpunkt auf Fox News.
Wir können also festhalten: Es kann auch Amerikaner treffen. Der Plan ist denkbar simpel: Mit der Abschiebung nach El Salvador hätte Trump gleich mehrere Probleme gelöst. Zum einen wären die ungewünschten Personen dann nicht mehr in den USA. Und zum anderen würde für diese Personen amerikanisches Recht nicht mehr gelten. Trump müsste sich also keine Sorgen mehr über irgendwelche Gerichte oder Richter machen.
Was ist die “Unitary Executive Theory”?
Mit dieser Grundlage also nun zu meiner Analyse und der Erkenntnis, dass das, was Trump heute macht, vergleichbar ist mit dem, was unter der Präsidentschaft von George W. Bush nach den Terroranschlägen vom 11. September (9/11) passierte.
Es geht um die sogenannte “Unitary Executive Theory”.
Die “Cornell Law School” erklärt diese Theorie des Rechts so:
“Die Unitary Executive Theory ist eine verfassungsrechtliche Theorie, die besagt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten die alleinige Autorität über die Exekutive besitzt.”
Liest man diese Erklärung ohne Kontext, dann könnte man zu dem Schluss kommen: Naja, das ist jetzt keine sonderlich große Überraschung, schließlich ist der US-Präsident mächtig und muss und soll eine gewisse Entscheidungsmacht haben.
Aber der Punkt ist ja: In einer Demokratie muss es sogenannte “checks and balances” geben, also Kontrollen und Gegenkontrollen, die dafür sorgen, dass die Macht einer einzelnen Person oder die Macht eines Amtes in Schach gehalten wird. Sonst würden wir ja nicht in einer Demokratie leben, sondern in einer Diktatur.
Wirklich interessant wird es deswegen, wenn man sich genauer anschaut, welche Argumente die Verfechter der “Unitary Executive Theory” verwenden, um dem Präsidenten eine nahezu ungehemmte Macht zu ermöglichen.
Und da gibt es - zumindest in der moderneren Geschichte - einen absoluten Meister seines Fachs: Dick Cheney, ehemals Vizepräsident der USA unter George W. Bush.
Wie kein zweiter war Cheney nicht nur ein Befürworter dieser verfassungsrechtlichen Theorie, er kämpfte auch jahrzehntelang dafür, dass der US-Präsident qua Amt auch die absolute Macht besaß.
Letztlich basiert alles auf einem kleinen, aber entscheidenden Satz in der US Constitution. Es ist dieser Satz, den man in Artikel II Absatz 1 findet, den ich als große Schwachstelle bezeichnen würde.
Dort steht: “The executive Power shall be vested in a President of the United States of America.” Also übersetzt: “Die Exekutivgewalt liegt bei einem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.”
Und noch ein zweiter Satz ist für diejenigen von entscheidender Bedeutung, die an die “Unitary Executive Theory” glauben. Artikel II, Section 2: “The President shall be Commander in Chief of the Army and Navy of the United States (…).” Übersetzt: “Der Präsident ist Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine der Vereinigten Staaten.”
Warum also sind diese beiden Sätze so gefährlich und warum bilden sie die Grundlage für eine Interpretation, die es Präsidenten ermöglicht, Gerichte und den US-Kongress einfach zu ignorieren?
Die Grundlage für die Gesetzlosigkeit
Um das zu verstehen, müssen wir zurück zu Cheney und der Zeit nach 9/11. Cheney, über den wir heute wissen, dass er die Präsidentschaft von 2001 bis 2009 viel mehr prägte als der eigentliche Präsident George W. Bush, wollte nach den Terroranschlägen vom 11. September seine jahrzehntelange Vorbereitung der Ausweitung der Exekutivmacht des Präsidenten in die Tat umsetzen.
Er fand für seinen Plan zwei Verbündete, die Schlüsselfunktionen spielen würden: David S. Addington, Cheneys persönlicher Rechtsberater und John Yoo, damals Anwalt im ziemlich mächtigen Office of Legal Counsel (OLC) des Justizministeriums. In Zusammenarbeit mit Addington, verfasste Yoo Memoranden, die dem Präsidenten zu beispielloser Autorität verhelfen würden.
Diese Memoranden sind heute teilweise auch als die “Torture Memos” (offiziell: “Memorandum Regarding Military Interrogation of Alien Unlawful Combatants Held Outside The United States”) bekannt.
Im Grundsatz, und in den Jahren nach 9/11, ermöglichten sie der Regierung eine de facto unkontrollierte Macht über die Anwendung militärischer Gewalt, die Inhaftierung und Vernehmung von Gefangenen, außerordentliche Deportationen und das Sammeln (also Abhören) von Informationen.
Eines der ersten dieser Memos von John Yoo erschien am 25. September 2001, also zwei Wochen nach 9/11. In einem Interview mit dem Fernsehsender PBS (2007) sagte Jack Goldsmith, damals Chef des obengenannten Office of Legal Counsel, über das Memo von Yoo:
“Das wirklich Bemerkenswerte an der Stellungnahme war der letzte Absatz oder die beiden letzten Absätze, in denen nach der Formulierung des Gedankens, dass der Präsident all diese weitreichenden Befugnisse hat, ohne die Unterstützung des Kongresses zu benötigen, auch gesagt wurde, dass der Kongress die Befugnisse des Präsidenten nicht einschränken kann. Es ging also über den Gedanken hinaus, dass der Präsident keine Ermächtigung des Kongresses braucht, und argumentierte, dass es nichts gibt, was der Kongress tun könnte, um den Präsidenten daran zu hindern, diese Dinge zu tun. Das war der bemerkenswerte Teil des Urteils.”
Ein ebenfalls wichtiger Punkt, der uns dann auch wieder zurück zu Trump führen wird, ist dieser hier: In einem späteren Memorandum vom März 2003 argumentiert Yoo, dass Präsident Bush weder durch internationales Recht, das Folter verbietet, noch durch ein Bundesgesetz gegen Folter gebunden sei, weil er als Oberbefehlshaber die Befugnis habe, jede Verhörtechnik zu genehmigen, die zum Schutz der Sicherheit der Nation erforderlich sei.
Der entscheidende Satz aus dem Dokument von John Yoo:
“We therefore believe that it is clear that the Fifth Amendment does not apply to alien enemy combatants held overseas.”
Mit anderen Worten: Für Menschen (Gefangene), die sich nicht auf amerikanischem Boden befanden (z.B. in Guantanamo) galt kein internationales oder nationales Recht. Die USA konnten sich in einem komplett rechtsfreien Raum bewegen.
Der amerikanische Journalist Scott Horton schrieb 2009, kurz nachdem George W. Bush die Amtsgeschäfte an Barack Obama übergeben hatte, einen Artikel über die Bush-Jahre:
“Vielleicht haben wir es damals nicht bemerkt, aber in der Zeit von Ende 2001 bis zum 19. Januar 2009 war dieses Land eine Diktatur. Die verfassungsmäßigen Rechte, die wir in der Schule in Staatsbürgerkunde gelernt hatten, waren außer Kraft gesetzt. Zu verdanken war dies geheimen Memos, die tief im Justizministerium ausgearbeitet wurden und die Verfassung praktisch außer Kraft setzten. Was wir jetzt wissen, ist wahrscheinlich das Geringste davon.”
Die zeit nach 9/11, Cheneys Interpretation der Verfassung und die Kreation eines rechtsfreien Raums bilden das Fundament für das, was wir heute bei Donald Trump erleben.
Die Guardian-Journalistin Jordana Timerman brachte es in einem aktuellen Artikel auf den Punkt:
“Der Fall von Kilmar Ábrego García veranschaulicht die menschlichen Kosten der sich abzeichnenden Bukele-Trump-Methode. Der Salvadorianer wurde von den US-Behörden aufgrund eines ‘Verwaltungsfehlers’ abgeschoben, wie die Behörden später erklärten. In einem zynischen Hin und Her behaupten Trump und Bukele, Abrego Garcías Entlassung aus dem Gefängnis liege außerhalb ihrer Kontrolle. Er ist nur einer von Tausenden, die von beiden Regierungen willkürlich inhaftiert und als Terroristen abgestempelt werden. Dies ist kein Nebenprodukt, sondern ein integraler Bestandteil des Ansatzes, der darauf abzielt, Terror zu schüren.”
Frank Bowman, Professor für Verfassungs- und Strafrecht an der University of Missouri School of Law, sprach mit Blick auf Trump und seine Politik vor einigen Wochen von einer “offenen Diktaturerklärung.” Er erklärte weiter:
“Im Wesentlichen sagt Trump damit: ‘Ich bin das Gesetz. Mein Wille ist das Gesetz. Meine Auffassung von dem, was das Gesetz ist, ist die einzige Auffassung, die jemals zum Ausdruck gebracht werden kann.’”
Und in der Tat ist es so, dass Trump sich in vielen seiner Präsidialanordnungen ganz spezifisch auf die Exekutivmacht des Präsidenten beruft. In einem Erlass vom 18. Februar heißt es zum Beispiel:
“Der Erlass stellt fest, dass Artikel II der US-Verfassung die gesamte Exekutivgewalt auf den Präsidenten überträgt, was bedeutet, dass alle Beamten und Angestellten der Exekutive seiner Aufsicht unterstehen.”
Das Verrückte an sowohl der Zeit nach 9/11, als auch der Zeit heute ist also: Es war und ist die Interpretation des Gesetzes und der Verfassung, die zu einer kompletten Gesetzlosigkeit führen kann. Mit anderen Worten: Das Gesetz wird zum Steigbügelhalter für den rechtsfreien Raum.
Wir halten also fest: Neu ist die Gesetzlosigkeit nicht. Vielmehr hätte man aus der Geschichte lernen können und müssen. Doch das macht der Mensch eben nur selten, oder nie.
Philipp Sandmann
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