Die großen Mythen der Migrationspolitik
Wir leben in einer Ära der restriktiven Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik. Ob das gut oder schlecht ist, das wird man sehen. Die großen Mythen bei dem Thema sollte man allerdings kennen.
Liebe Leserinnen und Leser,
in Berlin, so höre ich, fällt in diesen Tagen oft der Satz: Einen letzten Schuss haben die demokratischen Parteien der Mitte noch frei. Danach droht das, was z.B. in Österreich schon bald Realität sein könnte: eine von Rechtspopulisten angeführte Regierung.
Ich glaube, dass in diesem Satz viel Wahrheit steckt. Wir sehen das in Frankreich, wir sehen das in Italien, in den USA sowieso. Doch wir sollten auch präzise sein, wenn wir interpretieren wollen, was dieser “letzte Schuss” eigentlich bedeutet. Denn wer z.B. glaubt, dass Grenzschließungen die absolute Lösung des Problems sind, der irrt.
Der “letzte Schuss” muss also gefüllt sein mit kluger Politik, die über den Tellerrand hinausschaut. Und letztlich muss dabei auch klar sein, welche Folgen bzw. externen Effekte diese Politik haben kann.
Grund genug, über einige der Mythen in der Migrationspolitik zu sprechen.
Ein bisschen Werbung in eigener Sache. Ab sofort schreibe ich eine Kolumne für das “Clap”-Magazin. In meinem ersten Artikel werfe ich einen kritischen Blick auf die deutsche USA-Berichterstattung und erlaube mir die Frage: Stimmt unser US-Kompass eigentlich noch? Hier könnt ihr den Text lesen.
Mythos 1: Restriktive Migrationspolitik lässt sich ganz einfach umsetzen
Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus den USA: Eines von US-Präsident Donald Trumps ausgewiesenen Zielen ist die Abschaffung illegaler Migration und die starke Verringerung von “undocumented immigrants” im Land. Ein Baustein von Trumps Plan ist deswegen ein Ende des sogenannten “Birthright”.
Das Geburtsrecht ist der Grundsatz, dass jemand, der in den USA geboren wird, auch Bürger dieses Landes ist, selbst wenn die Eltern keine US-Staatsbürger (und/oder z.B. illegale Migranten) sind. Kritiker argumentierten in der Vergangenheit, dass das “Birthright” einen Anreiz für Menschen darstellt, illegal in die USA zu kommen oder dort zu bleiben.
Man kann zu dieser Schlussfolgerung kommen, allerdings wären die Auswirkungen einer Abschaffung des “Birthright” ebenfalls interessant (sollte diese Anordnung überhaupt durchgehen und nicht von Gerichten gestoppt werden). Eine ganz simple Konsequenz wäre nämlich: Jedes Kind, das nach der Abschaffung des “Birthright” in den USA auf die Welt kommt und Eltern hat, die sich illegal in den USA befinden, wäre in der Sekunde der Geburt selber illegal im Land und ein “undocumented immigrant”. Donald Trumps Plan würde also (zumindest am Anfang) zu einer Erhöhung der Anzahl an “illegalen” Migranten in den USA führen und nicht zu einer Verringerung. Das genaue Gegenteil von dem, was er seinen Wählerinnen und Wählern versprochen hat.
Was hat das mit der deutschen und europäischen Einwanderungs- und Migrationspolitik zu tun? Sehr viel. Denn mein Argument lautet: Oft führen scheinbar einfache politische Entscheidungen zu vollkommen konträren Ergebnissen. Darüber sind sich viele Politikerinnen und Politiker nicht im Klaren.
Mythos 2: Entwicklungshilfe verringert Migrationsdruck
Ein großer Mythos beim Thema Migration ist dieser hier: Entwicklungshilfe und wirtschaftlicher Aufschwung führen zu einer Verringerung von Migration, weil Migranten, die mehr Geld zur Verfügung haben, dann in ihren Herkunftsländern bleiben.
Die Wahrheit sieht anders aus. Man könnte sogar sagen, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Eine gute Zusammenfassung lieferte 2014 der amerikanische Ökonom Michael A. Clemens, der in seiner Forschungsarbeit zu diesem Ergebnis kam:
“Viele Hilfspakete und Handelsabkommen für arme Länder zielen darauf ab, den Migrationsdruck aus diesen Ländern zu verringern. Die neuesten Daten und ein halbes Jahrhundert Forschung deuten jedoch darauf hin, dass der Auswanderungsdruck in den typischen armen Ländern sogar noch zunimmt. Der Migrationsdruck sinkt in der Regel erst, wenn sie den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen überschritten haben. In armen Ländern bedeutet mehr Entwicklung also mehr Migration, nicht weniger. Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung können daher am wirksamsten sein, wenn sie mit Maßnahmen zur Förderung der Mobilität kombiniert werden.”
Clemens untermauert seine Forschung mit einer quantitativen Recherche, die auf diesen Diagrammen gut dargestellt wird. Hier kann man sehen: Die Migrationszahlen steigen bis zu einem gewissen BIP pro Kopf (zwischen 5.000 und 10.000 USD), erst danach verringern sie sich wieder.
Und warum ist das so? Weil Menschen, die mehr Geld zur Verfügung haben als vorher, auch mehr Optionen haben. Sie haben vor allem mehr finanzielle Flexibilität. Denn Migration ist für viele Menschen schlichtweg zu teuer und erst ab einem bestimmten Einkommen machbar.
Mythos 3: Die Abschaffung legaler Migrationswege führt zu weniger Migration
Vor allem in Wahlkämpfen hört man oft, dass auch legale Migrationswege reduziert werden sollten, um z.B. die absolute Kontrolle darüber zu erlangen, wer ins Land kommt. So hat Donald Trump jüngst das Resettlement-Programm der USA auf Eis legen lassen.
Resettlement, das ist im Grunde genommen die “legalste” Form der Migration und ermöglicht es Flüchtlingen, in ein anderes Land (z.B. USA, Kanada, Australien, Deutschland, Frankreich) umzusiedeln, das sich bereit erklärt hat, sie mit einem legalen Status aufzunehmen. Dieser Status garantiert ihnen internationalen Schutz und letztlich einen dauerhaften Aufenthalt. Die USA und Kanada gehörten in den vergangenen Jahren zu den Ländern, die über diesen Mechanismus am meisten Flüchtlinge aufnahmen. Der große Vorteil (vereinfacht formuliert): Die Zielländer können entscheiden, wen sie wollen und wen nicht.
Zu glauben, dass sich die Menschen, die nun keinen Resettlement-Platz mehr in den USA bekommen, nicht trotzdem auf den Weg machen, halte ich für einen Trugschluss. Auch hier kann folgendes passieren: Migranten, die vorher noch über legale Wege kamen, werden dann auf einmal zu “illegalen” Migranten. Also wieder das Gegenteil von dem, was die Politik eigentlich erreichen will.
Was heißt das für Deutschland?
Zum Schluss, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich sagen: Ich blicke gespannt auf das, was in Deutschland gerade passiert.
Der jüngste Schachzug von CDU-Chef Friedrich Merz, beim Thema Migration zu vermitteln “it’s my way, or the highway”, kann sich als geniale Strategie entpuppen, die dazu führt, dass sich etwas bewegt. Der Schachzug kann aber auch dazu führen, dass wir nach der nächsten Bundestagswahl auf eine schwere Staats- und Regierungskrise zusteuern. Beides ist möglich.
Merz schreibt übrigens auf X: “Wenn ein Staat den Anspruch aufgibt, selbst zu entscheiden, wer sein Staatsgebiet betreten darf, gibt er seine zentrale Aufgabe auf: die Gewährleistung von Recht und Ordnung. Ich bin dazu nicht bereit.”
Ich stimme dem Zitat zu. Allerdings - und deswegen habe ich die großen Mythen in der Migrationspolitik aufgeschrieben - braucht es hier trotzdem ein Denken, das sich nicht nur von der Kurzfristigkeit leiten lässt. Der Staat wird nämlich nur dann entscheiden können, wer sein Staatsgebiet betritt, wenn er legale Wege für die Migration schafft, die transparent und sicher sind.
Wenn wir aber feststellen sollten, dass auch Grenzschließungen nicht zur Lösung unserer Probleme beitragen, dann ist die Gefahr groß, dass der letzte Schuss vergeben wird und wir ihn noch nicht mal mit der klügsten Politik gefüllt haben.
Philipp Sandmann