Warum die Ukraine gewinnen muss.
Ist Freiheit wichtiger als Frieden? Am Ende des Jahres 2024 beschäftigt mich diese Frage. Exklusive Einblicke gibt es aus einem Nachbarland der Ukraine, aus Belarus. Und ein bisschen Hoffnung.
Liebe Leserinnen und Leser ,
es ist gut, seine eigenen Haltungen und Überzeugungen gelegentlich zu überprüfen, um zu schauen, ob sie noch zeitgemäß sind.
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Ich habe diese Überprüfung beim Thema Ukraine vorgenommen und bin zu dem Ergebnis gekommen: Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen muss oder zumindest in die Lage versetzt werden sollte, um auf Augenhöhe mit Russland über einen möglichen Waffenstillstand zu verhandeln.
Geholfen hat mir dabei ein kluger Artikel in dem US-Außenpolitik-Magazin Foreign Affairs, der in verständlicher Sprache aufzeigt, warum eine Art Appeasement gegenüber Putin ein grandioser Fehler wäre.
Der Autor, Michael McFaul, ehemals US-Botschafter in Moskau zwischen 2012 und 2014, erklärt, warum das Argument (u.a. hervorgebracht von Donald Trump), man könne den Krieg innerhalb kürzester Zeit beenden wenn der Ukraine nur die Hilfen zugedreht würden, in die Irre führt. “Die Mittel für die Ukraine jetzt abrupt zu kürzen, das würde keinen Frieden bringen, sondern nur weitere russische Aggressionen anstacheln”, schreibt McFaul.
Um auf ein Friedensabkommen hinzuarbeiten, sollte Trump deswegen die bereits bewilligte Militärhilfe für die Ukraine eher beschleunigen. Das könne eine Art Patt-Situation auf dem Schlachtfeld herbeiführen. Weiter schreibt der Autor: “Putin wird erst dann ernsthaft verhandeln, wenn die russischen Streitkräfte nicht mehr in der Lage sind, weiteres ukrainisches Territorium zu erobern (…). Damit ernsthafte Verhandlungen beginnen können, muss Putin zunächst glauben, dass die Vereinigten Staaten die Ukraine nicht aufgeben werden.”
Habt ihr diesen Newsletter schon gelesen?
“Für einen Moment waren sie hier”
Eine zweite Anekdote zum Thema Ukraine kommt von meiner Mutter Elisabeth Sandmann, die vor einigen Tagen das 20-jährige Bestehen ihres Verlags, dem Elisabeth Sandmann Verlag, gefeiert hat.
Vor einem Jahr erschien im Elisabeth Sandmann Verlag das Buch: Briefe von Frauen aus der Ukraine an die freie Welt. Im Rahmen des Buches wurde in Berlin, im Dezember 2023, ein Konzert organisiert, für das über 80 Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine nach Deutschland kamen, um nur für einen Abend in der Hauptstadt zu spielen.
“Auch sie, diese großartige Geigerin, stand und wartete mit den anderen, um in den Bus einzusteigen, der sie alle durch die Nacht zurück ins Grauen bringen würde. Aber für einen Moment waren sie hier.”
Nach dem Konzert kam es zu einem Moment, der mich bis heute berührt und vor Weihnachten nachdenklich stimmt. Meine Mutter hat ihn festgehalten:
“Ich möchte gerne mit Euch ein Bild teilen, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. An dem Abend nach dem Konzert bin ich auf dem Weg zur U-Bahn mit einer Freundin beim Künstlereingang vorbeigekommen, aus dem die Musikerinnen und Musiker kamen. Sie hatten ihre Konzertkleidung aus- und ihre Alltagskleidung angezogen. Sie alle hatten auf der Bühne so leuchtend ausgesehen und so stolz, nun aber wirkten sie, zumindest auf mich, müde, erschöpft, angespannt. Manche von ihnen trugen kleine Tütchen bei sich, die auf Weihnachtseinkäufe schließen ließen. Einkäufe, die vermutlich in aller Eile erledigt werden mussten, denn viel freie Zeit blieb ja nicht.
Im Kofferraum des Buses, befand sich ein leuchtend rotes Blechauto für ein Kind. Jemand hatte es besorgen können, und ich denke seither, wer wird es wem schenken und wie lange wird das Glück halten?
Ich habe mich dann auch noch einmal von Bogdana Pivnenko verabschieden können und gemerkt, wie unpassend es war, jetzt friedliche Weihnachten zu wünschen. Auch sie, diese großartige Geigerin, stand und wartete mit den anderen, um in den Bus einzusteigen, der sie alle durch die Nacht zurück ins Grauen bringen würde. Aber für einen Moment waren sie hier.”
Die Realität für Ukrainerinnen und Ukrainer bleibt auch ein Jahr später dramatisch. Die Menschen in der Ostukraine müssen im Zuge der russischen Besatzung ein Terror-Regime aushalten. Wieder wird es diesen Winter um die Strom- und Energieversorgung im Land gehen. Und ab dem 20. Januar 2025, wenn Donald Trump offiziell das Amt des US-Präsidenten übernimmt, weht ein anderer Wind.
“Lukaschenko ist viel verwundbarer als Putin”
Deswegen sollten wir auch auf andere Länder schauen, die etwas in der Region bewegen können. Belarus ist ein Nachbarland der Ukraine und wird in der heutigen Zeit oft vergessen. Dabei ist die Arbeit, die belarussische Widerstandskämpferinnen wie die im Exil lebende Politikerin Swjatlana Zichanouskaja leisten, enorm wichtig. Auch für Europa. Sollte es nämlich gelingen, den belarussischen und von Putin gesteuerten Präsidenten Lukashenko zu schwächen, dann hätte das auch für Russland schwerwiegende Konsequenzen.
Vor einigen Tagen konnte ich mit dem diplomatischen Berater von Zichanouskaja darüber sprechen. Dzianis Kuchynski habe ich die Frage gestellt, ob es nur ohne Putin ein freies Belarus geben könne. Seine Antwort ist überraschend und macht ein bisschen Mut:
“Viele Menschen denken, dass Veränderungen in der Region - in der Ukraine, in Weißrussland, in Georgien - nur möglich sind, wenn Putin nicht mehr da ist oder wenn das russische Regime zusammengebrochen ist oder wenn es eine Demokratisierung in Russland gibt.
Auf der einen Seite ist es so: Gäbe es Demokratie in Russland, dann könnte das viele Möglichkeiten für die gesamte Region und für Europa eröffnen. Andererseits argumentieren wir, dass ein Wandel in Russland durch einen demokratischen Wandel in Weißrussland ausgelöst werden kann und höchstwahrscheinlich auch wird.
Wir sind der Meinung, dass ein Regimewechsel in Weißrussland und eine Demokratisierung des Landes zu einem Dominoeffekt führen könnte. Wir haben das im Jahr 2020 gesehen, als wir einen Aufstand mit Hunderttausenden Menschen auf der Straße hatten, der sofort zu Aufständen und Protesten in Russland führte.
Die Menschen schauen und beobachten, was in den Nachbarländern vor sich geht. Ich denke, wir sollten mit den Dingen beginnen, die machbar sind, und Lukaschenko ist viel verwundbarer als Putin. In der belarussischen Gesellschaft hat er keinen Rückhalt. Unsere Gesellschaft ist durchweg pro-demokratisch, pro-westlich und gegen den Krieg.”
Frieden oder Freiheit?
Kurz vor Weihnachten denke ich an ein Zitat von Willy Brandt. Es ist am Berliner Flughafen auf eine große Tafel gedruckt und man sieht es jedes Mal, wenn man auf der Rolltreppe steht:
“Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit.”
Ich würde dem Zitat eine Frage hinzufügen. Wenn man entscheiden müsste, was wichtiger ist - Frieden oder Freiheit - für was würde man sich entscheiden? Schlägt Freiheit womöglich den Frieden?
Ich wünsche euch ein frohes Fest und einen guten, friedlichen und gesunden Start im neuen Jahr. Danke für eure Unterstützung, die mir so viel bedeutet. 2025 wird eine Herausforderung auf vielen Ebenen. Wenn wir darüber sprechen und diskutieren, dann ist das gut.
Euer Philipp Sandmann
ps: Mein nächster Newsletter erscheint am 5. Januar 2025.