Liebes Deutschland, wohin steuern wir gerade?
Viel ist schon geschrieben worden über diese historische Woche im Bundestag. Ich will deswegen in die Zukunft schauen. Außerdem ist mir endgültig klar geworden, was die AfD eigentlich will.
Liebe Leserinnen und Leser,
ist in den vergangenen Tagen mehr kaputt gegangen, als wir erahnen können? Möglicherweise.
Read the English version of this article here:
Ein Kommentar bei Zeit Online trug den Titel: “Wofür?”
Paul Ronzheimer schrieb: “Das war es nicht wert, Herr Merz.”
Ein ehemaliger Chef von mir bei der BILD-Zeitung, den ich sehr schätze (Dietrich Menkens), der hätte nach dieser Woche sicherlich so etwas getitelt wie: “Der Bundestag LEBT und BEBT”. Und irgendwo wäre im Artikel ein für BILD typisches rrruuuuuummmssss vorgekommen.
Diese Überschriften sind aber auch ein guter Ausgangspunkt, um nach dieser Woche - in der CDU/CSU und FDP zusammen mit der AfD für einen Antrag zum Thema Begrenzung von Migration nach Deutschland stimmten - mit einer Aufarbeitung zu beginnen.
Und wenn ich eines gelernt habe in den vergangenen Jahren, dann ist es, die Dinge erst mit ein wenig Abstand zu bewerten und einzuordnen. In den Fernseh-Schalten, die ich zwischen 2019 und 2023 für RTL und ntv machen konnte, habe ich mich manchmal nach der Schalte dabei ertappt, dass ich im Grunde genommen noch gar nicht bewerten konnte, was da gerade passiert ist. Gerade in Corona-Zeiten war das schwer und im Nachhinein muss ich auch sagen: gelegentlich lag ich gehörig daneben.
Nun habe ich aber gerade - als Student, der ich noch für ein paar Monate bin - den Luxus, dass ich nicht sofort reagieren muss. Diesen Luxus nehme ich mir.
Trotzdem bleibt die Frage: Wohin steuern wir in Deutschland eigentlich gerade? Wohin wollen wir als Gesellschaft? Wohin wollen die, die wir in den Bundestag gewählt haben? Und wo wollen diese Politikerinnen und Politiker hin, nachdem wir sie in ein paar Wochen in den nächsten Bundestag gewählt haben?
Müssten wir die Antworten auf diese Fragen nur auf Grundlage der vergangenen Tage geben, dann bliebe am Ende nur Ratlosigkeit. Die Parteien der Mitte haben die Wählerinnen und Wähler dieses Landes ratlos zurückgelassen. Aber nicht nur das. Eine Partei konnte profitieren. Die AfD. Und zwar deswegen, weil sie die Chance genutzt hat, um noch einmal glasklar zu zeigen und zu sagen, was sie will. Die AfD hat auf diesen Moment gewartet.
In der Debatte nach der Abstimmung am Mittwoch ging der erste parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion, Bernd Baumann, ans Rednerpult.
Seine Ansprache im Wortlaut:
“Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, das ist wahrlich ein historischer Moment. Herr Merz, Sie haben geholfen, den hervorzubringen. Und jetzt gehen Sie hier ans Mikrophon und stehen hier mit schlotternden Knien und bibbernd und entschuldigen sich und bedauern das. Kanzlerformat war das nicht, Herr Merz.
In allen westlichen Ländern gibt es diese Gegenbewegung gegen den linksgrünen Mainstream. In den USA mit Trump, in Italien mit Meloni, in den Niederlanden mit Wilders, in Österreich mit Kickl. Überall, in allen westlichen Ländern, und jetzt eben auch in Deutschland. Das ist eine breite Bewegung des Bürgertums in allen westlichen Ländern. Die ist heute in Deutschland auch angekommen. Und das bedeutet, das Ende der rotgrünen Dominanz auch hier in Deutschland, für immer.
Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche, jetzt beginnt was Neues und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte von der AfD. Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben.”
Am meisten an dieser kurzen Rede von Baumann hat mich der letzte Satz schockiert. Da lief mir tatsächlich mal ein Schauer über den Rücken. Vielleicht, weil dieser Satz doch schon so nah an der Realität ist. Die AfD will führen, die anderen sollen folgen. Die anderen, das sind die - in den Augen der AfD - kraftlosen Volksparteien der Vergangenheit.
Sind unsere Prioritäten die richtigen?
Ich schreibe deswegen und ganz explizit über die AfD und nicht über mögliche Fehler der CDU/CSU, weil am Ende doch weiterhin klar sein muss, um was es eigentlich geht. Den Parteien der demokratischen Mitte MUSS klar sein, was hier auf dem Spiel steht.
Die AfD will Zerstörung. Die Zerstörung von Werten, Zerstörung von Vielfalt, und die Zerstörung von Deutschland. Es gibt im Bundestag keine andere Partei, die Deutschland so sehr hasst, wie die AfD. Die AfD kann es nicht ausstehen, wenn es Deutschland gut geht. Die AfD kann es nicht ausstehen, dass Volksparteien wie die CDU oder die SPD verschiedene Strömungen vereinbaren können und Kompromisse finden. Die AfD ist dann stark, wenn sie glaubhaft argumentieren kann, dass es Deutschland schlecht geht.
Und noch etwas, und das richtet sich ganz explizit an die Strategen bei der CDU: Die AfD will auch die Zerstörung der CDU. Das ist nicht nur meine subjektive Interpretation, sondern es ist das ausgewiesene Ziel dieser Partei. Eines ihrer Mitglieder, der im EU-Parlament sitzende Maximilian Krah, machte das in einem Interview im deutschen Fernsehen vor einiger Zeit sehr deutlich.
Auch hier, der Wortlaut (und hier im Video):
Krah: “Der europäische Vergleich zeigt, dass die politische Rechte nur dann zum Erfolg kommt, wenn die Christdemokraten verschwinden. Von daher setze ich nicht auf die CDU, ich setze auf die Implosion der CDU.”
Der Reporter fragte nach dieser Antwort nach: “Also die Zerstörung der CDU ist ihr Ziel?”
Krah antwortet: “Genau. Letztlich in zwei Teile. Ein Teil, der rechtsoffen ist und eben in einen Teil, der am Ende eine Art Grüne 2.0 ist. Insofern bleibt die CDU der strategische Hauptgegner und es wird eine neue, nicht von den Grünen dominierte Politik in Deutschland nur geben, wenn die CDU in ihrer heutigen Form verschwindet.”
Die AfD setzt auf die Implosion und das Verschwinden der CDU. Wer also meint, dass die AfD es nur auf die Grünen oder sie SPD abgesehen hat, der irrt gewaltig.
Was heißt das jetzt alles?
Im November habe ich für einen meiner ersten Newsletter eine Art politische Rede geschrieben und sie genannt: “Diese Rede sollte ein Bundeskanzler jetzt halten.”
Ein Teil der Rede ging so:
“Demokratien müssen in Zukunft aber auch in der Lage sein, Humanität und Moral mit Kontrolle und Ordnung zu verbinden. Und der wichtigste Punkt: All das muss möglich sein (und ist möglich) auf Basis von geltendem nationalen und internationalen Recht. Wir müssen uns an internationales Recht halten, weil wir es umgekehrt auch von anderen erwarten.
In diesem Zusammenhang bin ich sehr ehrlich mit Ihnen: Beim Thema Migration müssen alle demokratischen Parteien in Deutschland zusammenkommen und sie müssen etwas anbieten. Tun sie es nicht, dann haben die, die unsere Demokratie untergraben wollen bereits vermeintliche Antworten parat und sie stehen bereit, diese auch umzusetzen.
Die demokratische Mitte muss etwas anbieten. Auch unbequeme Lösungen. Auch beim Thema Migration. Es braucht sichtbare Veränderung. Menschen wollen ernstgenommen werden. Ich werbe für Kooperationen und Abkommen innerhalb der EU und ich werbe auch für Kooperationen und Abkommen mit Ländern außerhalb der EU. Über allem steht: Legale Migration muss immer über humanitäre Kontingente ermöglicht werden.”
Ich bleibe dabei: Die demokratische Mitte muss etwas anbieten!
Und ich will hier auch den Migrationsforscher Gerald Knaus zitieren (mit dem ich übrigens bald einen Podcast aufnehmen werde), der vor einigen Tagen in der ZDF-Sendung Markus Lanz vor allem besorgt war darüber, “dass es den Parteien der Mitte nicht gelingt, Lösungen zu finden, dass Parteien mit radikalen Parolen davon profitieren, dass die Bürger das Gefühl haben, es wird gesprochen, aber es passiert nichts. Und dass vor allem die Parteien der Mitte strategisch keinen Blick haben, was aus dem folgen kann.”
Was aus dem folgen kann, so Knaus, das ist eine krasse Beschädigung der Europäischen Union.
Was aus dem aber auch folgen kann, das ist das Ende der Demokratie. Und auch hier gilt: Das ist nicht meine subjektive und pathetisch angehauchte Meinung, sondern im Grunde genommen nur eine sachliche Analyse auf Basis dessen, was um uns herum in der EU und auch in den USA bereits passiert.
Die Journalistin und Autorin Anne Applebaum schreibt darüber eindrücklich in ihrem Buch “Autocracy Inc.”, in dem sie schildert, wie tief das Netzwerk von Leuten wie Viktor Orbán oder Donald Trump geht. Sie schildert allerdings auch, dass sie auf ihrem Weg zur Macht immer die Hilfe von etablierten Institutionen oder privaten Firmen hatten.
Demokratien schaffen sich selbst ab
Das bringt mich zu meinem letzten Punkt.
Demokratien schaffen sich in der Regel selbst ab. Das ist eine Binsenweisheit, aber so ist es nunmal. Ich ziehe ungern den Vergleich zu der Zeit vor 1933, aber er ist nunmal so passend und auch - auf erschreckende Art und Weise - so faszinierend. Der CDU-Politiker Armin Laschet hielt zu dem Thema vor etwa einem Jahr eine deutliche Rede.
Er sagte:
“Man kann sagen, naja, so schlimm wird das ja nicht werden. So haben die Leute 1933 auch gedacht. Bei der Reichstagswahl, der letzten, im November 1932, da hatten die Nazis zwei Millionen Stimmen verloren, sie hatten nur noch 33 Prozent. In Aachen, Köln, in dem Wahlkreis: 17 Prozent. Und dann wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Und dann haben manche gesagt, naja, wir ernennen den jetzt mal, in zwei Monaten wird der quietschen, dann hat er sich entlarvt, der wird keinen Erfolg haben und er hatte nur zwei Minister. Den Innenminister Frick und Göring. Alle anderen waren noch aus demokratischen Parteien. Und wissen Sie, was in den zwei Monaten, bis zu dem Zeitpunkt, wo er quietschen sollte, passiert ist? 30. Januar, seine Ernennung. 1. Februar, Auflösung des Reichstags. 3. Februar, Hitler sagt, er will rücksichtslos germanisieren und Lebensraum im Osten gewinnen. 4. Februar, Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. 22. Februar, SA und SS werden zur Hilfspolizei ernannt. 27. Februar, der Reichstag brennt. 5. März, wieder eine Wahl und wieder keine absolute Mehrheit für die Nazis. 11. März, Goebbels Propagandaminister. 22. März, Errichtung des Konzentrationslagers Dachau. 23. März, Ermächtigungsgesetz, Ende der Demokratie in Deutschland.
In zwei Monaten war alles zerstört. Und deshalb dürfen anti-Demokraten in keine staatliche Funktion kommen. Sie werden sie nutzen, die Demokratie zu beseitigen und das werden wir nicht zulassen.”
Und deswegen ganz zum Schluss noch ein Gedanke. Ich halte es für einen Fehler, immer nur zu argumentieren, dass die einzige Aufgabe von gewählten Volksvertretern ist, nur das umzusetzen, was der Wähler (vermeintlich) will. Das ist mir einfach zu seicht. Vor neun Jahren, da wollte eine Mehrheit der Briten aus der Europäischen Union austreten. Heute bereuen sie es bitter. Was die Mehrheit will, das ist nicht immer richtig und gerade wir in Deutschland sollten das eigentlich wissen.
Und sind wir doch auch mal ganz ehrlich mit uns selbst: Die Kritik an Angela Merkels Politik, so berechtigt sie in Teilen auch ist, ist doch deswegen so heuchlerisch, weil WIR (eine wirklich große Mehrheit) diese Politik über so viele Jahre mitgetragen haben.
2013 da erreichte die CDU über 41 Prozent (!!) der Stimmen und 2017 immerhin noch 32,9 Prozent. WIR Bundesbürger haben doch viel zu selten hinterfragt, was diese Art der Politik für unsere Zukunft bedeutet. Und warum? Weil es uns in dem Moment gut ging. Das gleiche gilt übrigens für die großen deutschen Firmen, die sich vom billigen russischen Gas haben einlullen lassen (ein Thema für einen der nächsten Newsletter) und heute in Richtung Politik schreien.
Somit ist doch das Argument sofort entkräftet, dass Politik immer genau das umsetzen muss, was der sogenannte Wählerwille ihr vorgibt. Ich wähle Politikerinnen und Politiker doch nicht nur, damit sie exakt das umsetzen, was ich will, ich wähle Politiker doch auch deswegen, weil ich will, dass sie kluge und langfristige Entscheidungen treffen, sich im Detail mit Themen auseinandersetzen und in Krisen antizipieren können, was für das Land gut ist und nicht nur für die Partei oder den Wahlkreis.
In ein paar Wochen wird der 21. Bundestag unseres Landes gewählt. Unsere Demokratie, sie lebt und sie bebt. Noch.
Philipp Sandmann