Gastbeitrag: Wie weit würden Sie für Ihre Freiheit gehen?
Ein Newsletter aus der Reihe. Mein ehemaliger Kollege Celal Çakar hat über die aktuelle Lage in der Türkei geschrieben. Es ist ein bewegender und aufrüttelnder Text geworden.
Liebe Leserinnen und Leser,
der Fokus in den Nachrichten liegt in diesen Tagen häufig auf den USA und den Koalitionsverhandlungen in Deutschland. Es war mir deswegen ein Anliegen - nach einem Austausch mit meinem guten Freund und ehemaligen Journalisten-Kollegen Celal Çakar - etwas über die Lage in der Türkei zu schreiben. Ich verfüge allerdings nicht über die Expertise, das zu tun.
Celal Çakar* allerdings schon. Er war jahrelang als Reporter für die BILD-Zeitung tätig, hat unzählige Male aus dem Ausland (u.a. aus der Türkei) für das Blatt berichtet und verfügt über einen Scharfsinn und ein großes journalistisches Talent.
Ich würde mich freuen, wenn Sie auch diesen Gastbeitrag weiterleiten und mir (uns) dazu Rückmeldungen und Kommentare schicken.
Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.
Philipp Sandmann
„Die Demokratie ist wie eine Straßenbahn; wir fahren, bis wir unser Ziel erreicht haben, und dann steigen wir aus.“
Der Istanbuler Bürgermeister wendet sich vor seiner Inhaftierung noch ein letztes Mal an seine Unterstützer. „Demokratie bedeutet auch die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter. Wenn diese beiden Prinzipien missachtet werden, entsteht unter dem Deckmantel der Demokratie eine autoritäre Herrschaft“, sagt er.
Es sind die Worte eines Mannes, der für viele ein Hoffnungsträger der modernen Türkei und ein ein Symbol des Wandels zu sein scheint. Ein Politiker, der sich gegen einen korrupten Staatsapparat einsetzt und dafür am Ende mit seiner Freiheit bezahlt.
Wer bis hierhin gedacht hat, dass dieses Zitat im Zuge der aktuellen Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu (54) entstanden ist, der irrt sich gewaltig.
Denn es sind die Worte von Recep Tayyip Erdoğan (71), die er am 26. März 1998 im Istanbuler Rathaus an seine Anhänger richtet – kurz bevor er eine 10-monatige Haftstrafe wegen Volksverhetzung antritt. Der Beginn einer beispiellosen Polit-Karriere, die ihn innerhalb von drei Jahrzehnten zum alleinigen Herrscher der Türkei katapultieren wird.
Am 23. März 2025, fast auf den Tag genau 27 Jahre später, muss erneut ein Bürgermeister der Millionen-Metropole in den Knast. Dieses Mal ist es eben jener İmamoğlu, Erdoğans größter Widersacher und bis vor Kurzem aussichtsreichster Kandidat, der nächste Präsident der Türkei zu werden.
İmamoğlu, der seine Wurzeln, wie Erdoğan selbst, an der türkischen Schwarzmeerküste hat, schaffte es, sowohl konservative als auch liberale, säkulare und auch kurdische Wählerstimmen auf sich zu ziehen.
Sie verhalfen ihm bei den Kommunalwahlen 2019 zum Sieg in Istanbul – die erste Niederlage, die der türkische Präsident einstecken musste, aber nur schwer hinnehmen konnte. Schließlich war es er selbst, der einst sagte: „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei.“
Nun überschlagen sich seit Tagen die Ereignisse am Bosporus. Eine Protestwelle geht durch das Land – Bilder von Demonstranten, die mit Tränengas und Wasserwerfern zurückgedrängt werden, gehen um die Welt. Kritische Journalisten werden verhaftet, die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft geht weiter auf Talfahrt.
Eine Überraschung? Keinesfalls.
Denn wer wissen will, wie sich der türkische Präsident in diesen 27 Jahren vom Opfer politisch beeinflusster Jurisdiktion zum Auftraggeber eben jener gelenkten Rechtsprechung entwickeln konnte, muss wissen, welch Geistes Kind Erdoğan bereits zu Beginn seiner Karriere war. Schon während er 1998 die Unabhängigkeit der Justiz einforderte, betonte er an anderer Stelle öffentlich:
„Die Demokratie ist wie eine Straßenbahn; wir fahren, bis wir unser Ziel erreicht haben, und dann steigen wir aus.“
Nun scheint der türkische Präsident endgültig den Blinker gesetzt und die Ausfahrt Richtung Diktatur genommen zu haben. Die Inhaftierung İmamoğlus bedeutet de facto, dass das aktive und passive Wahlrecht ausgehebelt ist.
Ich könnte Ihnen an dieser Stelle nun erklären, wie Erdoğans über 30 Jahre währender Aufstieg zur absoluten Macht genau ablief. Seine Taktiken, die besonders bei konservativen Wählern fruchten, hatte ich bei der letzten Präsidentschaftswahl als Reporter der BILD-Zeitung hier beschrieben. Daran hat sich nicht viel geändert – können Sie gerne nach der Lektüre dieses Newsletters lesen. Vielmehr möchte ich Ihnen heute eine andere Frage stellen.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, wie weit sind Sie bereit, für Ihre Freiheit zu gehen?
Würden Sie demonstrieren gehen, obwohl Ihnen Tränengas, Prügel, Knast und Enteignung drohen? Ein dystopisches Szenario, das in der Türkei seit Jahren zum Alltag von Millionen dazugehört.
Türkei? Dieses Land, das für viele nur zu existieren scheint, wenn man vom Schlemmer-Buffet des nächsten 5-Sterne All-Inclusive-Urlaubs zu Dumpingpreisen träumt. Oder wenn unser Kontinent mal wieder an der Außengrenze einen Türsteher braucht, der unerwünschte Migranten bloß weit weghalten soll.
Anders kann zumindest ich mir nicht erklären, warum es dieser Tage um die freiheitsliebenden Politiker in Berlin, Brüssel, Paris und Co. erstaunlich ruhig geworden ist – ausgerechnet jetzt, während Millionen Türken für eine Demokratie einstehen und sich gegen eine Diktatur aufbäumen.
Ich verstehe die europäischen Politiker.
Warum sollte man sich auch so weit aus dem Fenster lehnen und sich in die türkische Innenpolitik einmischen? Das Ganze ist schließlich mit so vielen unbequemen Fragen verbunden: Wird man mit einem neuen Präsidenten einer freien, demokratischen Türkei Deals verhandeln und danach auf goldenen Thronen posieren können? Wird man ihn mit Milliarden von Euros davon überzeugen können, die Grenzen weiter dichtzuhalten? Wird er die zweitstärkste NATO-Armee im Bündnisfall in unserem Sinne befehligen? Oder wird er vielleicht sogar die Dreistigkeit aufbringen, wieder Anspruch auf eine EU-Mitgliedschaft zu erheben?
Die Scheinheiligkeit und der Opportunismus Europas sind für mich als Deutscher mit türkischen Wurzeln nur noch beschämend.
Lieber beobachten und leise mahnen – ein Politik-Kurs, der ja bereits bei Putin so erfolgreich gefruchtet hat, wie Ihnen Millionen Ukrainer bestimmt bezeugen werden.
Die Scheinheiligkeit und der Opportunismus Europas sind für mich als Deutscher mit türkischen Wurzeln nur noch beschämend. Wenn ich mit Freunden und Verwandten vor Ort spreche, komme ich nicht drumherum, feststellen zu müssen, dass die wahren Europäer dieser Tage in Istanbul, Ankara und anderen türkischen Metropolen auf der Straße sind, ihre Existenz aufs Spiel setzen. Und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass diese Menschen nicht auf den Kopf gefallen sind. Sie hören und lesen die lächerlichen Lippenbekenntnisse, die sich das Auswärtige Amt abringt („Wer Oppositionspolitiker und Protestierende im Wahlkampf inhaftiert, schadet der Demokratie“). Sie wissen, dass auf Deutschland und Europa kein Verlass ist.
Erdoğan hat Zeit. Er weiß um unsere Erpressbarkeit. Deshalb wird er bis 2028 alles versuchen, um das letzte bisschen Opposition in seinem Land endgültig zu beseitigen. Ist Europa bereit, ihm dabei die Stirn zu bieten?